Zuflucht

Eine Zuflucht ist ein Ort, an den man sich zurückziehen kann, wenn es einem schlecht geht. Wenn man sich bedroht fühlt. Wenn man seine Heimat verloren hat.

Das Gedicht „Zuflucht noch hinter der Zuflucht“ von Reiner Kunze gefällt mir. Es spricht auf unverbrauchte und berührende Art davon, dass Gott für Menschen Zuflucht sein kann.


Reiner Kunze (* 1933)

ZUFLUCHT NOCH HINTER DER ZUFLUCHT

Hier tritt ungebeten nur der wind durchs tor

Hier
ruft nur gott an

unzählige leitungen läßt er legen
vom himmel zur erde

vom dach des leeren kuhstalls
aufs dach des leeren schafstalls
schrillt aus hölzerner rinne
der regenstrahl

was machst du, fragt gott

Herr, sag ich, es
regnet, was
soll man tun

Und seine antwort wächst
grün durch alle fenster.

(in: Reiner Kunze, Zimmerlaustärke. Gedichte, Fischer Verlag 1972)

 

Als Reiner Kunze dieses Gedicht schrieb (1971), wohnte er noch in der damaligen DDR. Aber dieser Staat ist ihm nicht mehr Heimat und Zuhause. Er wird von der Staatssicherheit beobachtet und er muss seine Manuskripte heimlich in den Westen schmuggeln, damit sie veröffentlicht werden können.

Das lyrische Ich, von dem Reiner Kunze in diesem Gesicht schreibt, nimmt offensichtlich eine Auszeit an einem verlassenen Ort am Ende der Welt. Hier gibt es keinen unerwarteten Besuch. „Hier tritt ungebeten nur der wind durchs tor.“

Dieser verlassene, abgelegene Ort ist dem lyrischen Ich eine Zuflucht. Hier gibt es Sicherheit vor Beobachtung, Verfolgung, Schikane.

Und es regnet. Bindfäden. Aufs Dach des leeren Kuhstalls und des leeren Schafstalls.
Aber in der Wahrnehmung und Empfindung des lyrischen Ich verstärkt der Regen nicht die Verlassenheit des abgelegenen Zufluchtsortes. Die Regenschnüre erscheinen ihm vielmehr als „unzählige leitungen… vom himmel zur erde.“

Zu diesem abgelegenen Ort kommt niemand. „Hier / ruft nur gott an“.
Und er ruft tatsächlich an, denn der Regenstrahl „schrillt“ aus der hölzernen Rinne.

„Wo bist du?“, fragt Gott den Adam in der Bibel.
Hier fragt er das lyrische Ich: „was machst du“?

Das lyrische Ich reagiert etwas verlegen auf diese Anfrage durch Gott.
„Herr, sag ich, es
regnet, was
soll man tun“?

Gott schweigt nicht.
„Und seine antwort wächst
grün durch alle fenster“.

Ausgerechnet hier, an diesem abgelegenen Ort, wo es auch noch kräftig und anhaltend regnet, ausgerechnet hier macht das lyrische Ich die Erfahrung, dass es hinter der selbstgewählten Zuflucht noch eine tiefere Zuflucht gibt. Eine Zuflucht von innen.


Bernhard Bosold