Wie die Sonne in das Land Malon kam

Malon – so heißt das Land, von dem ich dir heute erzählen will. Es liegt hinter sehr hohen Bergen versteckt. Die Sonne stieg niemals über die Bergspitzen. So war es dort immer dunkel, immer Nacht. Die Malonen aber, so hießen die Einwohner dieses Landes, trugen stets Windlichter mit sich herum. So hatten sie wenigstens ein bisschen Helligkeit in ihrer Finsternis. Insgesamt waren die Malonen schon sehr eigenartige Leute. Jeder von ihnen wohnte ganz allein in einem Haus und jedes Haus war von einer hohen Mauer umgeben. Keiner mochte den anderen leiden, keiner war mit dem anderen befreundet. Jeder misstraute dem Nächsten und war ihm neidisch. Du merkst es schon: auch innerlich herrschte bei den Malonen die Dunkelheit und vergiftete alles.

Eines Tages kam ein Wanderer nach Malon. Das überraschte, ja verwunderte die Malonen sehr, denn sie konnten sich nicht erinnern, dass jemals ein Fremder zu ihnen gekommen war. Der Wanderer war auch sehr erstaunt über die merkwürdigen Leute und das komische Land, in dem keine Sonne schien und jeder Tag stockfinster war. Er fragte: „Wo ist die Sonne?“ Darauf ein Malone: „Was ist das, Sonne?“ Alle riefen: „Sonne? Haben wir noch nie gehört oder gesehen!“ Da meldete sich ein uralter Malone nachdenklich zu Wort: „Ist das nicht das große Windlicht, die große Himmelslampe?“ Der Wanderer konnte es nicht glauben und fing an zu erzählen: „Ja, ja genau! Das ist die Sonne! Jeden Morgen steigt sie leuchtend am Himmel auf. Ihre wärmenden Strahlen wecken die Vögel in den Nestern. Singend begrüßen sie den neuen Tag, das helle Licht. In der Sonne öffnen sich die Knospen und Blüten der Sträucher und Bäume. Die Blüten lassen ihren süßen Duft verströmen und die Sonne lockt das saftigste Grün aus dem Gras, das gierig aus dem Boden wächst. Die Menschen blühen auf und fühlen die Sonne auf ihrer Haut. Sie springen voll Freude im Freien herum und haben eine gesunde Bräune im Gesicht. Das ist so wunderschön!“ Die Malonen, stellt euch vor, kamen staunend aus ihren kalten Häusern mit den hohen Mauern heraus und setzten sich dicht gedrängt um den Tisch, an dem der Wanderer saß und die schönsten Geschichten von der Sonne erzählte, so dass sein Gesicht wunderschön strahlte und leuchtete. Jeder wollte ihm nahe sein und seine Wärme, die von ihm ausging, spüren. Sie bauten sogar ein Haus, ein Versammlungshaus, damit sie den herrlichen Geschichten Tag und Nacht lauschen konnten. Sie bekamen ein Verlangen, eine Sehnsucht nach Helligkeit, nach Wärme, nach Licht und Sonne. Aber es blieb dunkel.

Es kam der Tag, da wollte der Wanderer wieder weiterziehen, denn er war lange genug in Malon gewesen. Er meinte: „Wisst ihr, wenn man von der Sonne erzählt, muss man sie immer wieder mal sehen, sonst wird ihr Bild in einem ganz schwach… es verblasst.“ Die Malonen waren sehr traurig, doch konnten sie den Wanderer nicht aufhalten. Wer sollte ihnen nun von der wunderbaren Sonne erzählen? Was sollten sie überhaupt jetzt tun? Sollten sie wieder in ihre kalten Häuser zurückgehen? Sollte sich jeder wieder hinter den hohen Mauern verstecken? NEIN! Das wollten sie ganz bestimmt nicht mehr! Sie spürten ein inneres Feuer, das alles ändern sollte. Sie wollten nicht mehr einsam sein. Sie wollten weiter miteinander reden und essen, lachen und helfen. Das fühlte sich so viel schöner an! Außerdem gaben die vielen Windlichter jedes einzelnen Malonen mehr Licht und Wärme als nur Eines. So blieben sie beisammen und lebten miteinander. Jeden Morgen riefen sie gemeinsam nach der Sonne, dem Licht des Lebens und waren fröhlich zusammen bei allem, was sie taten.

Da passierte eines Tages ein Wunder: es wurde hell und heller in ihrem Haus und sie sahen zum ersten Mal die leuchtende Sonne hinter den Bergen aufsteigen. Zunächst rot wie eine Blutorange, dann zitronengelb und als sie schließlich ganz hoch am Himmel stand, glänzte sie wie pures Gold. Die Leute riefen vor Glück alle wild durcheinander: „Schaut, da! Das muss sie sein! Das ist unsere Sonne!“

Diese Geschichte erzähle ich immer wieder gerne, wenn Dunkelheit das Leben zu beherrschen droht – äußerlich wie innerlich. Denn der Mensch kann nicht ewig in der Dunkelheit, der Einsamkeit und der Mutlosigkeit, leben. Licht ist Zeichen der Hoffnung, das Bedürfnis nach Wärme, nach Fröhlichkeit, nach einem Haus in Geborgenheit, einem Zuhause. Und trotzdem gehören Licht und Dunkel zusammen, denn erst in der Abhebung vom anderen wird man sich des einen bewusst. In Trauer, Nacht und Finsternis erwarten wir gespannt das Licht, den neuen Tag und wissen ihn zu schätzen. Feste werden derzeit langsam wieder gefeiert bis spät in die Nacht und Windlichter angezündet, um den Tag zu verlängern. Die Sehnsucht nach Heil, nach Harmonie und wohltuender Geborgenheit erfahren wir täglich neu, bekommen wir täglich neu geschenkt, wenn wir es zulassen, uns darauf einlassen. Gerade jetzt in den dunklen Zeiten von Corona verspüren wir eine tiefe Sehnsucht nach Hoffnung, Sonne, Freude und Gemeinschaft mit Verwandten und Freunden im Haus, im Garten, beim Essen, beim Wandern, Radfahren und Musizieren. Aber auch eine Sehnsucht nach Gott und seinem Haus, die Gemeinschaft mit Christen – der Kirche. Der Wanderer in der Geschichte kann jeder von uns sein: wir haben die Sonne in uns, wir haben das Licht geschaut und können in unseren Zuhörern die Sehnsucht nach diesem Licht entflammen und Hoffnung schenken durch uns selbst, weil Gott in uns wirkt, durch uns spricht und handelt. Dazu müssen wir  nur im Kontakt zur Sonne bleiben, damit wir unsere Kraft zu strahlen nicht verlieren.

Sonnige Grüße aus den Pfingstferien mit Familie und Fahrrad an der Mosel,

Suska Großmann