Mit Adresse und Uhrzeit

Am vergangenen Donnerstag (23. April) ist Norbert Blüm gestorben. Der frühere Arbeitsminister gehört zu den Erinnerungen meiner Kindheit. Er war oft im Fernsehen zu sehen, wenn meine Eltern die Tagesschau ansahen, damals, als ich mir nicht vorstellen konnte, dass ein Bundeskanzler anders als Kohl und ein Papst anders als Johannes Paul II. heißen könnte.

Für mich war Blüm eine besondere Erscheinung. Klein gewachsen, immer irgendwie lustig, auch dann, wenn er ernst redete. Und dann dieser hessische Akzent: „Die Rende is sischer!“ Mit diesem Satz fing vielleicht auch mein Nachdenken darüber an, was in Zukunft auf uns zukommt und dass die Welt, in der wir leben, sich verändert, bevor wir es begreifen. Jetzt ist diese Frage wieder ganz da, wo alles still steht in Zeiten von Corona, Menschen Angst haben um ihre Gesundheit, aber auch um ihre berufliche Zukunft und ihr wirtschaftliches Überleben.

In der „Süddeutschen Zeitung“ stand am Samstag ein Nachruf auf Norbert Blüm, der mich beeindruckt und berührt hat. Besonders eine Passage: Blüm erzählt darin von einem Treffen mit dem chilenischen Diktator Augusto Pinochet im Jahr 1987. Er wollte sich dort für die Freilassung von 16 politischen Gefangenen einsetzen, die zum Tode verurteilt waren. Pinochet „saß auf ʼnem Thron, ich ʼne Stufe tiefer, wir hatten innerhalb von 30 Sekunden Krach“, erzählt Blüm. Als der Diktator dem bekennenden Katholiken Blüm erklärte, er sei selbst ein frommer Katholik, soll Blüm ihm gesagt haben: „Der, vor dem Sie beten, kennt jeden, den Sie umbringen, mit Adresse und Uhrzeit.“ Pinochet war sauer, aber er ließ die Gefangenen frei.

Mich hat diese Geschichte beeindruckt, weil hier einer so ganz einfach und doch so elementar von dem redet, was wir glauben: dass Gott uns Menschen kennt. Und von der unantastbaren Würde, die daraus einem jeden Menschen erwächst. Davon, dass menschliche Gewalt und Ungerechtigkeit, die uns oft so unüberwindbar vorkommen, vor Gott dahinfallen müssen. Welche Wucht dieser einfache Glaubenssatz entfaltet, wenn er im rechten Moment und in der passenden Situation gesprochen wird. Wie er Freiheit und Leben eröffnet. Ich muss an den 8. Psalm denken, in dem es heißt: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“ (Ps 8,5) Und an die Bitte des mit Jesus zum Tode Verurteilten, der zu Jesus sagt: „Gedenke meiner, wenn du in dein Königreich kommst!“ (Lk 23,42)

Auf einmal spüre ich, was dieses tiefe Geheimnis in unserer Mitte bedeuten könnte, das wir „Gott“ nennen. „Mit Adresse und Uhrzeit“ – irgendwie lustig und gleichzeitig mit einem tiefen Ernst formuliert, so wie mir Norbert Blüm vorkam. Und gerade darin mit einer entwaffnenden Kraft, der sich nicht einmal ein Diktator entziehen konnte. Ich möchte heute einen Moment an diesen Menschen erinnern und glauben, dass Gott ihn kennt – mit Adresse und Uhrzeit. Und aus diesem einfachen Glaubenssatz, an den er mich erinnert hat, eine Hoffnung auf Zukunft ziehen, die uns frei macht für die Gegenwart. Und ich möchte Ihnen, der oder die Sie das lesen, diese Erinnerung zusagen, als ein Wort für den Tag, als ein Wort an Ihre Adresse, zu der Uhrzeit, zu der Sie dieses Wort lesen: Gott kennt auch dich - mit Adresse und Uhrzeit!

Ihre Ines Spitznagel